Virtuelles Praxisnetzwerk Projekt „Hauptstadt Urologie“ startet und soll Krebs präzise besiegen
Die Charité sowie Krankenkassen und Berufsverbände wollen mit dem Projekt individualisierte Krebstherapie für alle Patienten ermöglichen. In der Urologie soll es losgehen.
28.02.2020 | von Julian Olk
Molekularanalyse © Bloomberg
Düsseldorf Die Ausgaben für Krebsmedikamente in Deutschland steigen stetig. 2014 waren es laut GKV-Spitzenverband fünf Milliarden Euro, 2018 bereits 7,4 Milliarden Euro. Die Charité schätzt für 2022 Ausgaben in Höhe von 13 Milliarden Euro.
Um dem entgegenzuwirken, startet die Berliner Universitätsmedizin nun mit zahlreichen Partnern das Projekt „Hauptstadt Urologie“ (HU), das am Freitag offiziell vorgestellt wird. Das Ziel: Die prognostizierten Kosten für Krebsmedikamente 2022 halbieren. „Und vor allem soll Spitzenmedizin für alle verfügbar werden, ohne dass Patienten auf ihr gewohntes, heimatnahes Behandlungsumfeld verzichten müssen“, sagte Thorsten Schlomm, Urologie-Klinikdirektor an der Charité, Handelsblatt Inside.
Dafür soll gewissermaßen eine große virtuelle Arztpraxis mit vielen Standorten aufgebaut werden, die Charité und die niedergelassenen Urologen im gesamten Gebiet Berlin-Brandenburg sollen sich vernetzen. Ist ein Urologe Teil des Netzwerks, können sich auch seine Patienten kostenlos anschließen.
So soll die HU Präzisionsmedizin in die Praxis bringen. „Die konventionelle Behandlung von Krebs funktioniert nach dem Gießkannenprinzip, es bekommt jeder die gleiche Therapie, aber nur bei 30 Prozent wirkt sie. Bei welchen, wissen wir nicht“, sagt Schlomm. Viele leiden dadurch nur an den Nebenwirkungen, ohne einen Vorteil von der Therapie zu haben.
Einen Ausweg soll die molekulare Testung des Tumorgewebes vor einer Therapie bringen, bei dem das Genom analysiert und die für den Krebs verantwortliche Mutation gefunden werden soll.
Gleichzeitig stetige wissenschaftliche Untersuchung
Diese Auswertung war bislang aufgrund fehlender Standardisierung und großer Datenmengen extrem komplex und wurde deshalb häufig nur als letzte Option angewendet, wenn alle andere Therapieansätze gescheitert waren. An der Charité habe man oft mehrere Monate für eine solche Analyse gebraucht, berichtet Schlomm: „Einige Patienten waren da schon nicht mehr am Leben.“ Nun aber machen algorithmische Auswertungsmöglichkeiten die molekulare Analyse immer praxistauglicher, was die Dauer auf wenige Wochen verkürze.
Bei der HU soll die molekulare Analyse frühzeitig Teil der Behandlung sein, um die Patienten ohne Zeitverzögerung in neueste Therapien integrieren zu können. Die Gewebeentnahme muss aktuell noch in der Charité stattfinden, die HU will demnächst aber regionale Kliniken dafür einbinden. Das Gewebe wird sequenziert, geordnet und algorithmisch mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeglichen, um eine individuelle Therapieempfehlung für den Patienten zu erstellen.
Es sei gerade für niedergelassene Ärzte schwer, neben der immer größer werdenden alltäglichen Belastung den Überblick über alle wissenschaftlichen Neuerungen zu behalten, sagt Schlomm: „Durch unser Projekt bekommen sechs Millionen Menschen den Zugang zu den Möglichkeiten, die die Charité im Bereich Präzisionsonkologie hat.“
Entstehen soll ein Kreislauf: Die Ergebnisse der Therapie werden bei den Patienten abgefragt und die Erkenntnisse zum Training der Algorithmen genutzt. So wird die HU-Krebstherapie gleichzeitig zu einer stetigen wissenschaftlichen Untersuchung. Neben der Molekularanalyse der Biopsie analysiert die Charité auch die Selbstangaben der Patienten aus den HU-Fragebögen auf neue Therapiemöglichkeiten.
80 Urologie-Praxen und damit rund ein Drittel jener in Berlin-Brandenburg sind nach Informationen von Handelsblatt Inside bereits Teil des Netzwerks. Die derzeit in der Gründung befindliche gemeinnützige Gesellschaft PNC Med („Patienten Netzwerk Cluster Medizin“), soll das HU-Netzwerk betreiben.
Geleitet wird sie vom einstigen AOK-Nordost-Chef Frank Michalak, zur Führungsmannschaft gehören außerdem Charité-Arzt Schlomm und das Digital-Projektbüro „Die Brückenköpfe“. Dessen Leiter, Tim Rödiger, sagte Handelsblatt Inside: „Das medizinische Wissen verdoppelt sich alle 73 Tage. Gerade bei schweren Krankheiten wie Krebs sei es entscheidend, die bestmögliche Therapie schnell zu identifizieren.“
Datenschutz per Codenummer
Unterstützt wird die HU vom Berufsverband der Deutschen Urologen, der Deutschen Gesellschaft für Urologie, der AOK Nordost, der Barmer und der IKK BB. Das Projekt finanziert sich aus der Beteiligung an drittmittelgeförderten Forschungsprojekten, direkter Zuwendung von Forschungsmitteln, Kooperationen mit Unternehmen, Krankenkassen und Behörden sowie der Weitergabe von Daten, aber ohne Hinweis auf Identitäten.
Aufgrund der Gemeinnützigkeit gibt es keine Gewinnabsichten. Der Datenschutz werde gewährleistet, weil zum Beispiel keine der üblichen persönlichen Informationen wie Name oder Adresse abgefragt würden, stattdessen erhalte der Patient eine Codenummer.
Auch wenn die HU zuerst einmal nur Berlin-Brandenburg abdeckt, soll das Projekt keine Insellösung sein. Die HU soll als klinische Plattform an das geplante Deutschlandweite Genomnetzwerkes (GHGA) angeschlossen werden. Auch eine Integration in das europäische „One Million European Genomes Project“ ist dazu angedacht.
So wie in Berlin-Brandenburg könnten insgesamt sechs Netzwerke mit Zentralen wie die Charité entstehen. 2020 sollen ein bis zwei weitere ostdeutsche Bundesländer und die weiteren größten Krebsformen – Eierstock- und Brustkrebstumore – eingebunden werden. Sieben Millionen Patienten sollen 2021 Teil des Netzwerks werden, 20 Millionen soll es bis 2023 sein.