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Interview
EU-Kommissar Breton: Klimarettung ohne Kernkraft? „Das ist unmöglich, jeder versteht das“

EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton geht auf Konfrontationskurs mit den Grünen: Er fordert, Kernkraft als nachhaltig einzustufen. Zudem skizziert Breton seine Pläne für die Chip-Industrie.

27.11.2021 | von Moritz Koch

Thierry Breton © imago images/NurPhoto

Brüssel Kurz vor der Entscheidung der EU-Kommission über den künftigen Umgang mit der Kernenergie hat sich Binnenmarktkommissar Thierry Breton dafür ausgesprochen, Atomkraft als klimaneutral einzustufen. „Es ist schlicht nicht machbar, unsere Stromkapazitäten ohne Kernkraft zu verdoppeln“, sagte Breton im Interview mit dem Handelsblatt und anderen Wirtschaftsmedien.

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26 Prozent der europäischen Energieversorgung würden derzeit von Nuklearreaktoren gedeckt. „Um die Klimaneutralität zu erreichen, müssen wir alles nutzen, was uns zur Verfügung steht“, mahnte der französische Kommissar.

Die EU will im Dezember in der sogenannten Taxonomie festlegen, welche Investitionen künftig als grün gelten. Diese Einstufung könnte für die Finanzierung neuer Kraftwerke weitreichende Folgen haben.

Frankreich, das in seiner Klimastrategie stark auf Atomenergie setzt, fordert vehement, Nukleartechnologie als nachhaltig zu klassifizieren. Deutschland ist dagegen. Es droht ein heftiger Streit mit der künftigen Ampelkoalition. 

Angesichts hoher Energiepreise und anhaltender Lieferengpässe sieht Breton ein „starkes Inflationsrisiko“. Das werde eines der wichtigen Themen im kommenden Jahr sein. Um die Versorgungsprobleme zu lindern, setzt er sich für eine Stärkung der europäischen Chipindustrie ein.

Breton kündigte an, im ersten Quartal des kommenden Jahres den „EU-Chips-Act“ vorzulegen, der Subventionen erleichtern soll. „Wir wollen die gleichen Förderungen bieten können wie die USA, Japan, China und Korea“, betonte er. 

Vor dem Hintergrund der alarmierenden pandemischen Lage und der hohen Nachfrage nach Auffrischimpfungen versicherte der Kommissar, dass der Impfstoffmangel in Europa endgültig überwunden sei: „Wir stellen jetzt 300 Million Impfdosen pro Monat her, und es werden noch mehr, sodass wir bald vier Milliarden Dosen pro Jahr ausliefern können.“

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Lesen Sie hier das gesamte Interview

Herr Breton, in Berlin formiert sich die neue Regierung gerade, und schon zeichnet sich ein schwerer Konflikt mit Brüssel ab. Wird die Kommission Kernkraft trotz deutscher Bedenken als nachhaltige Technologie einstufen?
Wir haben die Entscheidung noch nicht getroffen, wir arbeiten daran. Ich habe mich aber schon mit dem künftigen Kanzler getroffen, eine Woche ist das her. Olaf Scholz und ich hatten ein gutes, sehr offenes Gespräch, aber ich behalte die Diskussion für mich. Klar ist, dass wir auch eine Regelung für Gas finden müssen, das für Deutschland ja besonders wichtig ist.

Konkret geht es um die Taxonomie, die Anlegern Klarheit darüber geben soll, welche Investitionen künftig als nachhaltig gelten. Die Grünen halten nichts von einem deutsch-französischen Tauschhandel „Gas gegen Atomkraft“. 
Um saubere Energie zu erzeugen und die Klimaneutralität zu erreichen, müssen wir alles nutzen, was uns zur Verfügung steht. Wir müssen die Kapazität der Stromproduktion in Europa innerhalb der nächsten 30 Jahre verdoppeln. Die Folgen von CO2-Emissionen sind heute jedem klar. Aber natürlich ist es besser, Strom mit Gas zu erzeugen als mit Kohle.

Kann Europa seine Klimaziele auch ohne Kernkraft erreichen?
Das ist unmöglich, für mich ist das völlig klar, und ich glaube, jeder versteht das. 26 Prozent unserer Energieversorgung werden von Nuklearreaktoren gedeckt. Es ist schlicht nicht machbar, unsere Stromkapazitäten ohne Kernkraft zu verdoppeln.

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Kapazitätsprobleme gibt es nicht nur bei der Stromversorgung. Wir sehen auch in der Industrie akute Engpässe. Die Folge sind steigende Preise. 
Wir haben es mit verschiedenen Arten von Engpässen zu tun. Es gibt einen Fachkräftemangel, und es gibt Probleme bei Rohstoffen, Energie und Halbleitern. Viele Fabriken wurden während der Pandemie geschlossen und mussten wieder hochgefahren werden. Jetzt deckt die Produktion die Nachfrage nicht.

Atomkraftwerk Tihange in Belgien © dpa

Was kann die EU dagegen tun?
Wir analysieren die Engpässe in allen Lieferketten und werden im ersten Quartal eine Strategie vorlegen. Das ist sehr wichtig für unsere Unternehmen und unseren Mittelstand. Gerade in der Autoindustrie geht wegen Lieferschwierigkeiten eine Menge Umsatz verloren. Der Halbleitermangel wird leider die nächsten Quartale anhalten. Auch wenn der Höhepunkt der Versorgungskrise wahrscheinlich hinter uns liegt: Vor dem Sommer werden wir wohl keine große Verbesserung sehen. Das treibt das Preisniveau.

Bisher wurde die Inflation in Brüssel eher kleingeredet.
Wenn Ressourcen in vielen Sektoren knapp sind, hat das Folgen. Wir haben ein starkes Inflationsrisiko. Das wird eines der wichtigen Themen im kommenden Jahr sein, und wir müssen es angehen.

Sie haben sich das Ziel gesetzt, die Chipproduktion in Europa zu verdoppeln. Doch die Unternehmen investieren anderswo. Gerade hat Samsung den Bau einer Chipfabrik in Texas verkündet. Geht Europa leer aus?
Zunächst: Die Entscheidung von Samsung war für mich keine Überraschung, sie war nicht gerade das bestgehütete Geheimnis. Unserem Ziel, den europäischen Anteil an der globalen Chipproduktion zu verdoppeln, steht das nicht im Weg. Ich habe schon vor der Pandemie gesagt: Weil wir mehr und mehr Halbleiter brauchen, müssen wir die europäische Produktion stärken.

Und der Staat soll dabei kräftig helfen?
Die Zahlen sind eindeutig. Die Nachfrage nach Halbleitern wird sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln. Der Chipmarkt hat derzeit ein Volumen von 500 Milliarden Dollar, 2030 wird es eine Billion sein. Die Hersteller produzieren immer gerade so viel wie nötig, sie richten sich stark nach der konjunkturellen Lage. Sie wollen nicht zu viel produzieren, denn dann würde der Preis verfallen. Das ist ähnlich wie in der Ölindustrie.

Was bedeutet das für die EU? 
Es ist klar, dass die heute bestehenden Produktionskapazitäten nicht ausreichen, um die wachsende Nachfrage zu bedienen. Derzeit werden zehn Prozent der weltweit produzierten Chips in Europa hergestellt, zehn Prozent in den USA. Das heißt: 80 Prozent der Chips kommen aus Asien, überwiegend aus Taiwan, gefolgt von Korea und China. Gerade die Chips, die wir für Hochgeschwindigkeitsrechner, Edge Computing und vernetztes Fahren benötigen, Chips von einer Größe unterhalb von fünf Nanometern, werden überwiegend in Asien hergestellt.

Verschläft Europa dieses Rennen um die Zukunft?
Eine Chipfabrik zu bauen ist komplexer als ein Flugzeug herzustellen. Es gibt nur etwa zehn Unternehmen, die das überhaupt können. TSMC, Samsung, Intel etwa und in Europa kleinere Anbieter wie Infineon, NXP und Bosch. All diese Unternehmen denken darüber nach, wie sie die steigende Nachfrage erfüllen können. 

Sie wollen diese Firmen nach Europa locken. Wie genau soll das gelingen?
Wir sind der größte Markt und haben großartige Forschungseinrichtungen wie Imec in Belgien und Fraunhofer in Deutschland. Auch aus geopolitischen Gründen macht es für die Unternehmen Sinn, ihre Produktion nicht auf eine Region zu konzentrieren. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen dafür eine Karte aufzeichnen muss. Sie wissen, worüber ich rede: Taiwan. Ich bin daher seit vielen Monaten in Diskussionen mit den Firmen.

Die entscheidende Frage ist doch: Wie hohe Subventionen bieten Sie?
Wir wissen, dass die Investitionen sehr teuer sind, und wir sind bereit, Risiken zu übernehmen. Gerade bei bahnbrechenden Technologien können wir Subventionen anbieten. Aber wir brauchen einen umfassenden Rechtsrahmen, um neue Investitionen willkommen zu heißen. Denn wir wollen die gleichen Förderungen bieten können wie die USA, Japan, China und Korea. Ich habe Kommissionschefin Ursula von der Leyen deshalb gesagt: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, einen EU-Chips-Act vorzulegen. 

Gesetze hat Europa schon viele, was fehlt sind Chipfabriken.
Warten Sie es ab. Ich habe gerade erst den Standort besucht, an dem diese Firmen investieren wollen. Die Unternehmen sind sehr anspruchsvoll, sie brauchen viel Platz. Mehr verrate ich nicht.

Sehr interessant, Sie waren ja kürzlich in Dresden.
Ich bin überall. Ich war vergangene Woche in Bulgarien, in der Slowakei, in Rumänien, zudem in Frankreich und Italien. Aber ja, ich war auch in Dresden, ein Standort, der sehr wichtig ist. Um eine Chipfabrik aufzubauen, braucht man vieles. Qualifizierte Mitarbeiter, Wasser, auch Subventionen, um das Risiko zu begrenzen, und, besonders wichtig, eine stabile Stromversorgung. Nebenbei bemerkt: Auch darum glaube ich an die Kernenergie.

Die Zeit drängt. Wann legen Sie Ihren Chips-Act denn vor?
Ich würde es gern vor Weihnachten schaffen, das ist wahrscheinlich nicht möglich. Aber wir finalisieren den Gesetzentwurf gerade. Anfang nächsten Jahres, während der französischen Ratspräsidentschaft, wird er vorgestellt. Schwierigkeiten mit dem Parlament und den Mitgliedstaaten erwarten wir nicht.

Für die Unternehmen ist die Frage entscheidend, welche Art von Chips staatlich gefördert werden kann. Nur die Chips der Zukunft, also kleiner als fünf Nanometer, oder auch andere?
Unsere wettbewerbsrechtlichen Instrumente sind bisher auf die Förderungen von Zukunftstechnologien ausgerichtet. Darüber habe ich auch mit meiner Kollegin, Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, gesprochen. Inzwischen verstehen alle: Der Fokus auf Zukunftstechnologien ist absolut wichtig, aber wir müssen auch darauf achten, dass unsere Wirtschaft in Krisen widerstandsfähig bleibt. Schließlich geht es um das geopolitische Gleichgewicht der Kräfte.

Wie meinen Sie das?
Wir müssen die Geopolitik von kritischen Lieferketten verstehen. Bei der Impfstoffherstellung haben wir es doch erlebt, als die USA ihre Grenzen geschlossen haben. Daher müssen wir sehen, wo unsere Stärken liegen, damit wir sie im Ernstfall nutzen können. Wenn wir unsere Grenzen schließen würden, gäbe es im Rest der Welt keine Chips mehr, da alle Hersteller auf Maschinen von ASML aus den Niederlanden angewiesen sind. Das deutlich zu machen bedeutet nicht, Protektionismus herbeizureden, sondern die richtige Machtbalance zu schaffen. So wie uns das bei den Impfstoffen gelungen ist.

Wo stehen wir bei der Impfstoffversorgung denn? Die vierte Welle hat Europa erfasst, die Angst vor neuen Varianten wächst. Reichen unsere Vorräte?
Vor einem Jahr hatten wir das Problem, dass es in Europa keine Produktionsstätten für die beiden Impfstoffe gab, die zuerst zugelassen wurden. Wir mussten bei null anfangen, Kapazitäten aufbauen, wie in einer Kriegswirtschaft. Wir stellen jetzt 300 Millionen Impfdosen pro Monat her, und es werden noch mehr, sodass wir bald vier Milliarden Dosen pro Jahr ausliefern können. Es gibt keine Versorgungsprobleme mehr. Wir haben bei null angefangen und sind jetzt die Apotheke der Welt. Das ist ein großer Erfolg.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO kritisiert allerdings, dass sich die Europäer mit Auffrischimpfungen versorgen, statt zuerst den Rest der Welt zu immunisieren. Daraus ergibt sich die Gefahr immer neuer Virusvarianten.
Ich habe diese Äußerung gehört. Aber ich glaube, dass da ein Missverständnis vorliegt. Wir liefern Impfstoff an 150 Länder und benötigen weniger als eine Monatsproduktion, um die gesamte erwachsene EU-Bevölkerung zu boostern.

Herr Breton, vielen Dank für das Interview.

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