Handelsblatt-Interview mit Außenminister Lawrow Russland öffnet Ukraine den Weg in die Nato
Russland würde sich einer Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens in der Europäischen Union und der Nato nicht entgegenstellen. „Das ist deren Wahl. Wir achten das Recht jedes Staates, selbst zu entscheiden, welcher Organisation sie beitreten wollen“, sagte Russlands Außenminister Sergej Lawrow im Handelsblatt-Interview.
02.01.2005
HB MOSKAU. In seinem ersten Interview mit einer führenden europäischen Zeitung seit der Amtsübernahme im vorigen März sprach sich Russlands Top-Diplomat für eine Freihandelszone und für die Abschaffung der Visumspflicht mit der EU aus:
Sergej Viktorowitsch, der Ton zwischen dem Westen und Russland hat sich angesichts der Ereignisse in der Ukraine verschärft. Erwarten Sie einen neuen Kalten Krieg?
Lawrow: Wir haben keine schärferen Töne angeschlagen, das waren die westlichen Wahlbeobachter in der Ukraine und die Oppositionspolitiker dort. Sie haben zur Blockade von Regierungsgebäuden aufgerufen. Um ein Blutvergießen zu verhindern, war der runde Tisch unter Einbeziehung der EU und Russlands wichtig. Ein Auseinanderbrechen der Ukraine wurde so verhindert. Von unserer Seite wurde niemals erklärt, dass wir nicht bereit sind, mit dem Präsidenten zu arbeiten, den das ukrainische Volk wählt. Wenn das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine beibehalten wird und der Ukraine das Recht gelassen wird, sich ihre Partner selbst auszusuchen, sehe ich keine Gefahr eines neuen Kalten Krieges.
Dennoch hat Ihr Präsident Putin gesagt, er sehe die Gefahr einer Isolierung Russlands...
Lawrow: Er sprach nicht von Isolierung, sondern von Versuchen einer Destabilisierung Russlands. Wir können nicht zusehen, wie der internationale Terrorismus versucht, Tschetschenien und den gesamten Nordkaukasus zu destabilisieren. Wir können auch nicht darüber hinwegsehen, was einige europäische Politiker sagen. So, als zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang in der Ukraine der holländische Außenminister Bernard Bot meinte, die Ukraine sollte die Nähe des Westens suchen. Schon damals habe ich gesagt, dass das die Ukraine anhand ihrer geographischen und geopolitischen Lage selbst entscheiden muss. Sie hat Russland und die Europäische Union zum Nachbarn – und es ist wenig sinnvoll, die Ukraine von einem Nachbarn wegreißen zu wollen. Das wäre ein Element der Isolation Russlands.
Fühlt sich Russland denn vom Westen richtig verstanden und seine Kompromisse, wie die Ratifizierung des Kyoto-Umweltprotokolls, ausreichend gewürdigt?
Lawrow: Russland hat seine Abmachungen eingehalten und nicht nur das Kyoto-Protokoll, sondern auch die Übertragung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens (PKA) mit der EU auf die neu beigetretenen Staaten ratifiziert. Die EU aber hat nur Teile der Vereinbarungen mit uns umgesetzt und wichtige Teile noch nicht realisiert.
Welche denn nicht?
Lawrow: Die Frage des Warentransits von und nach Kaliningrad ist ebenso wenig gelöst wie die Frage der russischen Minderheit im Baltikum. In Lettland und Estland werden die Standards für die Rechte von nationalen Minderheiten nicht eingehalten. Dafür sollte die EU sorgen. Wir wollen normale Beziehungen zu beiden Ländern und sind deshalb für einen russisch-baltischen Gipfel, auf dem wir Grenzabkommen mit Lettland und Estland vereinbaren wollen. Ich kann nicht sagen, ob die Erfüllung unserer Zusagen – Beispiel Kyoto – unseren Partnern hilft, ihre Versprechen umzusetzen. Wir halten unsere Zusagen ein und erwarten das auch von unseren Partnern.
Das heißt aber, Sie sehen zu wenig Dankbarkeit im Westen für Moskaus Entgegenkommen?
Lawrow: Wir erwarten keine Dankbarkeit. Wir leben seit langem in der realen Welt und der Realpolitik. Pragmatismus ist das Kriterium, das uns leitet. Wir setzen in unserer Außenpolitik auf keinerlei Ideologie oder Propaganda. Wir wollen unsere Interessen vertreten – aber nicht durch Konfrontation, sondern durch Dialog. Dabei erwarten wir einen ehrlichen Umgang mit uns.
Sehen Sie den auch von Seiten des US-Gerichts, das den Fall der russischen Ölfirma Yukos verhandelt?
Lawrow: Wir haben die Yukos-Steuerprobleme anhand unserer Gesetze gelöst, ohne dabei internationales Recht zu verletzen. Wir werden im Yukos-Fall auch alles weiter nach unseren Gesetzen und unserer Verfassung entscheiden. Erklärungen aus Washington, ihnen würde der Yukos-Fall nicht gefallen und er sei schlecht für Russlands Investitionsklima, decken sich nicht mit den uns vorliegenden Fakten.
Gibt es ähnliche negative Erfahrungen für Sie mit der EU?
Lawrow: Mit der EU wurde ein Einfuhrzolltarif für russische Aluminiumprodukte von vier Prozent vereinbart, der dann einseitig von Brüssel auf 7,5 Prozent erhöht wurde. Auf dem EU-Russland-Gipfel in Den Haag wurde dazu gesagt, Russland sei auf dem Gebiet so konkurrenzfähig, dass die EU sich schützen müsse. Das ist merkwürdig für marktwirtschaftliche Beziehungen. Statt russische Produkte mit nicht- marktwirtschaftlichen Mitteln zu blockieren, sollte die EU lieber Maßnahmen zur Erhöhung der eigenen Konkurrenzfähigkeit ergreifen.
Nehmen Sie die EU denn als außenpolitischen Partner ausreichend wahr oder ist die russische Außenpolitik zu sehr auf die USA ausgerichtet?
Lawrow: Die russische Außenpolitik ist nicht zum Schaden des einen auf den anderen ausgerichtet, sondern eine Politik mit vielen Vektoren. In einer so vielschichtigen Welt haben wir als größtes Land und als einer der militärisch und ökonomisch stärksten Staaten Interessen nicht nur bei unseren direkten Nachbarn, sondern auch global. Priorität unserer Außenpolitik sind deshalb unsere Nachbarstaaten, die EU, die immer wichtiger wird, die USA als globale Großmacht, China, Japan, der asiatisch-pazifischen Region und Lateinamerika, das immer mehr Interesse an guten Beziehungen zu Russland zeigt. Wir sind davon überzeugt, dass es Stabilität nur bei einer multipolaren Weltordnung geben kann. Dabei wird die EU immer stärker zu einem der wichtigsten Zentren und Russland wird nach allen Parametern ein europäisches Land.
Hat Russland denn eine partnerschaftliche Politik gegenüber seinen GUS-Nachbarn, oder will der Kreml diesen noch immer seinen Willen aufzwingen?
Lawrow: Wir haben nicht das Recht auf ein Monopol der Beziehungen zu den GUS-Ländern. Aber wir haben natürlich eigene Interessen in der Region. Das hat mit unserer Sicherheit zu tun, auch damit, dass wir keine Attacken internationaler Terroristen von Nachbarländern aus zulassen dürfen. Und wir erwarten, dass unsere wirtschaftlichen Interessen respektiert werden. So wie wir auch die Interessen anderer wahren und die Souveränität der Nachfolgestaaten der Sowjetunion akzeptieren. Auch wenn es darum geht, sich Partner zu wählen. Wer bereit ist zu enger Kooperation mit uns, zu freundschaftlichen oder Bündnisbeziehungen, zur Integration kann mit privilegierten Wirtschaftsbeziehungen zu uns und mit vergünstigten Energielieferungen rechnen.
Bedeutet das Recht auf Souveränität etwa für Georgien und die Ukraine auch, dass Russland nichts gegen deren Beitritt zur EU und zur Nato hätte?
Lawrow: Das ist deren Wahl. Wir achten das Recht jedes Staates – unsere Nachbarn eingeschlossen –, sich seine Partner selbst zu wählen, selbst zu entscheiden, welcher Organisation sie beitreten wollen. Wir gehen davon aus, dass sie für sich überlegen, wie sie ihre Politik und Wirtschaft entwickeln und auf welche Partner und Verbündete sie setzen.
Hat Russland denn selbst vor, EU-Mitglied zu werden?
Lawrow: Diese Frage stellen wir uns nicht, nicht einmal theoretisch. Unsere offizielle Linie ist die Entwicklung guter Beziehungen zur EU im Rahmen des PKA. Aber wir müssen schon jetzt darüber nachdenken, was wir nach dem Auslaufen des PKA 2007 tun wollen. Wir können es einfach verlängern. Doch ich hoffe, dass wir die Beziehungen zur EU deutlich vertiefen können.
Wie und auf welchen Gebieten?
Lawrow: Wir wollen vertiefte Vereinbarungen zum freien Austausch von Waren und Dienstleistungen, einen freien Handel und Bewegungsfreiheit wie innerhalb der Europäischen Union. Doch alle Fragen so zu entscheiden wie für einen EU-Beitritt schlagen wir nicht vor und schlägt auch uns niemand vor.
Ist denn die Rolle Deutschlands dabei gegenüber Russland konstruktiv?
Lawrow: Deutschland ist eines der Länder, das konsequent eine Intensivierung der Beziehungen der EU zu Russland vertritt. Es war auch eines der ersten Länder, das Visa-Erleichterungen mit uns vereinbart hat. Deutschland verfolgt konsequent die Vertiefung der russisch-europäischen Wirtschaftsbeziehungen.
Spielen dabei Ihre guten persönlichen Beziehungen zum deutschen Außenminister Joschka Fischer eine Rolle?
Lawrow: Ich kenne Joschka Fischer sogar noch aus der Zeit, bevor er Außenminister wurde. Heute ist er einer der erfahrensten Diplomaten, der die hervorragende Eigenschaft besitzt, seine Diplomatie menschlich zu machen. Das macht ihn sehr sympathisch. Außerdem hat er inzwischen eine kolossale Erfahrung.
Es gibt immer wieder Gerüchte, Russland wolle auch Truppen in den Irak schicken. Stimmt das?
Lawrow: Das ist vollkommener Quatsch. Niemand hat je davon gesprochen, geschweige denn, darüber nachgedacht. Die Lage dort ist so, dass dringend etwas getan werden muss - vor allem ein zwischen-irakischer Dialog mit allen Lagern, der zu nationaler Einheit und Befriedung führt. Die Versuche, viele politische Gruppen zu isolieren, die nicht in der Übergangsregierung vertreten sind, verschärfen die Situation. Leider wurden in die Übergangsregierung aus verschiedenen Gründen viele politischen Kräfte, ethnische und religiöse Gruppen nicht einbezogen. Noch vor den Wahlen muss aber der Dialog mit allen Lagern geführt werden, damit alle politischen, ethnischen und religiösen Gruppen das Gefühl bekommen, dass die Wahlen im Interesse aller sind und dass in die Verfassunggebende Versammlung alle Gruppen einbezogen werden. Bei seinem Moskau-Besuch hat Übergangs-Premier Allawi bekräftigt, dass er genau das jetzt vorhat. Ich hoffe, dass der zwischen-irakische Dialog jetzt anläuft, sonst wird die Lage vor den Wahlen im Irak kaum zu stabilisieren sein.
Russland hat aus der Zeit der Saddam-Herrschaft noch große Ölverträge mit dem Irak? Hoffen Sie auf eine schnelle Umsetzung dieser Abkommen?
Lawrow: So wie Russland seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt, gehen wir davon aus, dass auch unsere Partner dies tun.
Wird Russland einen neuen Ansatz in der Nahost-Politik vertreten nach der durch den Tod Jassir Arafats nötig gewordenen Wahl in Palästina am kommenden Wochenende?
Lawrow: Ich denke nicht, dass das Nahost-Quartett mit Beteiligung Russlands und der Roadmap-Plan zur Regulierung des Nahost-Konflikts in die Sackgasse geraten sind. Vielmehr ist mein Eindruck nach einer Reise nach Israel und Ramallah, dass nach Neuwahlen eine ernsthafte Chance zur Wiederaufnahme des Friedensprozesses besteht. Ebenso zum Abzug Israels aus dem Gaza-Streifen im Einklang mit der Roadmap.
Sie waren lange Jahre Russlands Uno-Sicherheitsrats-Vertreter und Ihr Land strebt eine grundlegende Reform der Uno an. Wie soll diese aussehen?
Lawrow: Es ist zweifelsohne die Zeit zur Reform der Vereinten Nationen herangereift. Der Uno-Sicherheitsrat hat in der bisherigen Zusammensetzung vor Jahrzehnten seine Arbeit aufgenommen, als die Uno gerade einmal die Hälfte der heutigen Mitglieder versammelte. Aber wir dürfen die Reform des Sicherheitsrates nicht isoliert von der Reform der Vereinten nationen sehen. Wir brauchen auch eine Änderung der Rolle der Generalversammlung der Uno. Dort dürfen nicht mehr Diskussionen vor leeren Rängen stattfinden, deshalb muss die Generalversammlung sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren. Der Sicherheitsrat darf sich zudem nicht der Aufgaben und Kompetenzen der Generalversammlung bemächtigen. Der Sicherheitsrat soll sich auf konkrete Konflikte konzentrieren - auf Basis der Normen, die die Generalversammlung festlegt. Aber bisher usurpiert der Sicherheitsrat der Vollmachten der Generalversammlung.
Und wie soll der Sicherheitsrat reformiert werden?
Lawrow: Das ist ein zentrales Element. Unserer Meinung nach ist die Zeit reif, zur Erweiterung des Sicherheitsrates und es gibt eine Reihe von Staaten, die starke und offensichtliche Anwärter auf einen Sitz dort sind: Deutschland, Japan, Brasilien und Indien und unbedingt ein Vertreter Afrikas. Der Status aller Länder muss im Falle einer Erweiterung gleich sein. Aber bisher gibt es noch Widersprüche und eine große Minderheit ist gegen eine Erweiterung. Wir sind pragmatisch und für einen Konsens. Wir sind gegen eine Abstimmung in der Frage, die die Uno spalten würde. Denn dann würde ein neuer Sicherheitsrat an Legitimität verlieren.
Deutschland sollte aber Ihrer Meinung nach Ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrates werden?
Lawrow: Wir sind bereit, Deutschland zu unterstützen und tun das bereits - wie wir auch einen ständigen Sicherheitsrats-Sitz für Indien, Brasilien und Japan unterstützen, wenn der Beschluss zur Erweiterung gefällt wurde.
Sind die Ankündigungen von Präsident Putin, Russland werde sein Atompotenzial modernisieren, eine Drohung an den Westen?
Lawrow: Dafür gibt es keinen Grund. Wir modernisieren unsere Streitkräfte, um sie in Verteidigungsbereitschaft halten zu können und keine Sorge um unsere Sicherheit haben zu müssen.
Ist sie denn in Gefahr?
Lawrow: Um uns herum geschehen Prozesse, die man genauso gut als Drohung missverstehen könnte. Wir sind Partner der Nato, sehen aber keinen Sinn in ihrer Erweiterung. Wir sind Partner der USA, verstehen aber deren Pläne zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems nicht. Und wir waren verwundert, dass am Tag nach der letzten Nato- Erweiterung Awacs-Aufklärer entlang den Grenzen Russlands flogen und Kampfflugzeuge in Litauen stationiert wurden – obwohl die Region kein Sicherheitsproblem hat. Wir schlagen daher vor, gemeinsam mit der Nato ein System für die Sicherheit des Luftraums aufzubauen.
Sie haben ein Rauchverbot im Uno-Hauptquartier verhindert – gegen den Wunsch von Generalsekretär Kofi Annan. Rauchen Sie immer noch, wenn Sie zur Uno reisen?
Lawrow: Im Uno-Gebäude gibt es Raucherecken, und ich verteidige sie als Menschenrecht – wenn auch das Recht von Menschen mit schlechten Gewohnheiten. Ich war aber auch schon dabei, als Kofi Annan nach einem guten Essen mit Freude eine Zigarre geraucht hat.
Das Gespräch führte Mathias Brüggmann.