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Illegale Einwanderung
Pandemie verstärkt Migrationsdruck auf EU

Die gute Gesundheitsversorgung in den EU-Staaten zieht gerade während der Corona-Pandemie viele Flüchtlinge an. Die Migrationsagentur ICMPD erkennt neue Routen.

25.01.2021 | von Hans-Peter Siebenhaar

Flüchtlinge auf Gran Canaria © imago images/Agencia EFE

Brüssel Als Folge der Pandemie wird die Zahl der Flüchtlinge in Europa in diesem Jahr steigen. Laut Migrationsagentur International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) lockt die Verfügbarkeit von Impfstoffen und allgemein die Versorgung von Patienten mehr Migranten an.

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„Die gute Gesundheitsversorgung in Europa ist ein Anziehungspunkt für illegale Immigranten. In der EU wird man gratis geimpft. Das ist sehr attraktiv für Flüchtlinge aus Afrika, Lateinamerika und Asien. Deshalb erwarten wir eine Zunahme der illegalen Immigration“, sagte Michael Spindelegger, Chef der Migrationsagentur ICMPD, dem Handelsblatt in Brüssel.

Hinzu komme noch die globale Wirtschaftskrise. „In vielen Ländern sinken die wirtschaftlichen Hoffnungen. Deshalb wird sich der Auswanderungsdruck verstärken“, prognostiziert der frühere österreichische Vizekanzler und Außenminister.

Der Migrationsorganisation ICMPD in Wien und Brüssel mit rund 350 Mitarbeitern gehören 18 europäische Staaten an, seit vergangenem Jahr auch Deutschland. Derzeit bemühen sich noch die Niederlande und Griechenland um eine Aufnahme. Die Agentur betreibt politische Grundlagenforschung und führt in Zusammenarbeit mit Regierungen migrationspolitische Projekte durch.

Spindelegger, der seit fünf Jahren die europäische Migrationsagentur leitet, fordert von der EU, sich endlich auf eine gemeinsame Migrationsstrategie zu einigen. „Ich bedauere, dass es noch immer keine Einigung auf eine gemeinsame Migrationspolitik in der EU gibt, obwohl die deutsche EU-Präsidentschaft alles versucht hat“, sagte er.

An einer schnellen Beseitigung der Defizite in der Migrationspolitik durch die 27 Mitgliedsländer glaubt er hingegen nicht. „Ich erwarte keinen Durchbruch in der Migrationspolitik während der portugiesischen Ratspräsidentschaft“, sagt er.

Michael Spindelegger © dpa

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Im September machte die EU-Kommission ihre Vorschläge, die aber weder vom Rat noch vom Europaparlament verabschiedet sind. Der Vorschlag sieht vor, schneller über Asylanträge zu entscheiden, rasch Abschiebungen durchzuführen und nicht mehr alle EU-Länder zur Aufnahme von Schutzsuchenden zu zwingen.

Ziel ist es, die EU-Außengrenzen besser zu schützen und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten zu verbessern, um die illegale Migration zu stoppen und Rückführungen in diese leichter zu ermöglichen. Umstritten ist unter anderem die sogenannte „Return Sponsorship“, die beispielsweise aus der Sicht Österreichs nicht zu einer verpflichtenden Verteilung durch die Hintertür führen darf.

In den geplanten Patenschaften zwischen der EU und den Herkunftsländern in Afrika und Asien sieht Spindelegger unterdessen einen wichtigen Fortschritt. „Das ist der richtige Weg, auch wenn das nicht mit allen Ländern in Nordafrika gelingen kann. Es geht nicht nur um Rückführungen von illegalen Flüchtlingen, sondern auch um legale Wege der Einwanderung, Handelserleichterungen oder Subventionen in den Herkunftsländern“, sagte der Migrationsexperte.

Viel mehr Flüchtlinge auf den Kanarischen Inseln

Die Schweiz könne als Vorbild dienen. Denn sie habe bereits mit Tunesien und Nigeria derartige Abkommen geschlossen. Obwohl die EU sehr mit der Pandemie beschäftigt sei, sollte sie sich nicht täuschen lassen. Das Thema Migration werde in diesem Jahr wieder relevanter werden. Eine Entwarnung will Spindelegger auf keinen Fall geben – im Gegenteil.

Die illegale Einwanderung nach Europa erschließt sich nach der Beobachtung der Migrationsagentur neue Routen. Als Beispiele nennt das ICMPD die Fluchtrouten vom Libanon ins EU-Land Zypern oder von Mauretanien auf die Kanarischen Inseln. Dort sei die Zahl der Flüchtlinge um 900 Prozent gestiegen.

In der zentralen Mittelmeerroute über Tunesien legte die Zahl der Flüchtlinge im vergangenen Jahr um 155 Prozent zu. Der Tourismus ist in Tunesien wie auch in anderen nordafrikanischen Staaten wie Marokko und Ägypten sehr stark eingebrochen. Deshalb kehren vor allem junge Leute Tunesien den Rücken. Selbst auf der Westbalkanroute nahm die Zahl der illegalen Einwanderer im vergangenen Jahr um 105 Prozent zu.

Auch Lateinamerika ist ins Visier der Migrationsexperten gerückt. „Südamerika ist von den wirtschaftlichen Einbrüchen sehr viel stärker betroffen als die EU. Sobald die Flugverbindungen wieder vollständig hergestellt sind, wird die Migration von dort zunehmen“, prognostiziert Spindelegger.

Mehr Einwanderung aus Lateinamerika

Lateinamerikaner können ohne Visum nach Spanien einreisen. Viele werden dort wegen der hohen Arbeitslosigkeit nicht bleiben können. „Angesichts der wirtschaftlichen Situation werden die Einwanderer zwangsläufig auf andere EU-Länder ausweichen“, sagt der Migrationsexperte.

Im vergangenen Jahr nahm die Migration nach der im März ausgebrochenen Pandemie ab. In den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres wurden in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union rund 430.000 Asylanträge gestellt. Dies entspricht einem Rückgang von knapp 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die größten Rückgänge gab es im Frühjahr, als viele EU-Grenzen streng kontrolliert wurden. Die drei wichtigsten Länder waren Syrien, Irak und Afghanistan. Die endgültige EU-Asylstatistik wird voraussichtlich erst im März 2021 verfügbar sein.

Wenn es künftig wieder weniger Grenzkontrollen geben sollte, werde die Zahl illegaler Grenzübertritte wieder nach oben gehen, ist sich Spindelegger sicher. Denn die ausgewanderten Migranten in Europa spielen für ihre Familien zu Hause als Ernährer eine wichtige Rolle.

„Im vergangenen Jahr gingen die Überweisungen aus Europa an die Verwandten in den Heimatländern um 14 Prozent zurück. Deshalb wird der wirtschaftliche Druck auf die Migranten zunehmen“, ist Spindelegger überzeugt.

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