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Energie
Stromlücke droht: Warum die Ziele aus dem Koalitionsvertrag kaum zu meistern sind

Die Ampelkoalition hat sich in der Energie- und Klimapolitik ehrgeizige Ziele gesetzt. Exklusive Berechnungen wecken Zweifel an der Umsetzbarkeit.

06.12.2021 | von Klaus Stratmann und Kathrin Witsch

Braunkohlekraftwerk Jänschwalde © Paul Langrock/Zenit/laif

Berlin, Düsseldorf Die Zahlen sind beeindruckend: Bereits 2030 sollen 80 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen und 15 Millionen E-Autos zugelassen sein. Zugleich soll 2030 das letzte Kohlekraftwerk vom Netz gegangen sein – acht Jahre früher als bislang geplant. Doch was muss passieren, damit diese Ziele aus dem Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP erreicht werden?

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Das Energiewirtschaftliche Institut an der Uni Köln (EWI) hat für das Handelsblatt nachgerechnet: Laut EWI müssen bis 2030 Gaskraftwerke mit einer installierten Leistung von 23 Gigawatt (GW) neu gebaut werden. Das entspricht rechnerisch der installierten Leistung von 23 Atomkraftwerken. „Bei der Bundesnetzagentur sind aktuell 2,3 Gigawatt Gaskraftwerkskapazitäten bis 2023 als geplanter Zubau gelistet. Dieser Wert müsste sich bis 2030 verzehnfachen. Das ist ohne Frage ein Kraftakt“, sagt EWI-Experte Max Gierkink.

Außerdem ist ein Ausbau von Wind- und Solarkraftwerken erforderlich, wie es ihn in Deutschland noch nie gegeben hat. So sollen allein die Photovoltaik-Kapazitäten von derzeit 54 GW bis 2030 auf 200 GW steigen. Das bedeutet einen jährlichen Nettozubau von 14,6 GW bis 2030. Der bisherige Rekordwert stammt aus dem Jahr 2012. Damals wurden laut EWI 7,9 GW erreicht.

„Es muss allen klar sein: Die Erneuerbaren-Ziele des Koalitionsvertrages sind äußerst ambitioniert“, sagte auch Kerstin Andreae, die Hauptgeschäftsführerin des Energie-Branchenverbands BDEW, dem Handelsblatt.

Verbandschefin Andreae stellte klar: Der vorgezogene Kohleausstieg könne nur konditioniert erfolgen. Die Versorgungssicherheit müsse „jederzeit gewährleistet sein“, so Andreae. Kein Zweifel: Die Ampelkoalitionäre haben die Latte denkbar hoch gelegt. Das wird nicht nur mit Blick auf das von 65 auf 80 Prozent erhöhte Erneuerbaren-Ziel und den bereits für 2030 statt 2038 angestrebten Kohleausstieg deutlich. Auch im Verkehrssektor stoßen SPD, Grüne und FDP auf ein neues Ambitionsniveau vor.

Laut Koalitionsvertrag sollen 2030 bereits 15 Millionen reine E-Autos über die Straßen rollen. Damit wäre, gemessen am heutigen Pkw-Bestand, jeder dritte Wagen batteriebetrieben. Das setzt voraus, dass sich bereits zur Mitte des Jahrzehnts das Kaufverhalten komplett verändert hat. „Wenn das Ziel von 15 Millionen Elektroautos bis 2030 erreicht werden soll, müssten 2025 etwa 17 von 20 neu zugelassenen Autos rein batterieelektrische Fahrzeuge sein“, sagt EWI-Experte Gierkink. Das wiederum macht es erforderlich, die Bemühungen zum Ausbau der Ladeinfrastruktur zu intensivieren.

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Der Wechsel auf E-Autos bleibt nicht ohne Folgen für das Gesamtsystem. Die Antriebswende wird für eine rasch steigende Stromnachfrage sorgen – ebenso wie der geplante Ersatz von gas- oder ölbetriebenen Heizkesseln durch elektrische Wärmepumpen. Hinzu kommt das Ziel der künftigen Koalition, die für 2030 angestrebten Kapazitäten für die stromintensive Wasserstoffelektrolyse von der Zielvorgabe fünf GW auf zehn GW zu verdoppeln.

Auch Faktoren jenseits der Klimapolitik sorgen für eine steigende Stromnachfrage, die zugleich die Betreiber der Stromnetze vor Herausforderungen stellt. So die Digitalisierung mit ihrem exorbitant steigenden Datenvolumen und einer wachsenden Anzahl von Rechenzentren. Auch die geplanten Giga-Factories für die Produktion von Batteriezellen werden sich spürbar auf den Stromverbrauch auswirken.

Verbrauchsprognose steigt rapide

Im Koalitionsvertrag heißt es, der Bruttostrombedarf des Jahres 2030 werde sich in einer Spanne zwischen 680 und 750 Terawattstunden (TWh) bewegen. Diese Prognose übertrifft die noch einmal deutlich die zuletzt Mitte November nach oben korrigierte Prognose der geschäftsführenden Bundesregierung, in der von 658 TWh ausgegangen wird. 2020 betrug der Bruttostromverbrauch in der Bundesrepublik 545 TWh.

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Nach Einschätzung des EWI muss man davon ausgehen, dass sich der Verbrauch im oberen Bereich der von der künftigen Koalition genannten Spanne einpendelt. Das EWI selbst geht von 725 TWh im Jahr 2030 aus.

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Der steigende Strombedarf sorgt dafür, dass auch die jederzeit abrufbare Erzeugungskapazität wächst. Denn viele der neu hinzukommenden Stromverbraucher sind in ihrer Nachfrage nicht sonderlich flexibel. Das gilt zum Beispiel für elektrisch betriebene Wärmepumpen in Gebäuden – niemand will im Winter eine kalte Wohnung haben, weil gerade Flaute herrscht und der Himmel bedeckt ist. „Die inflexible Nachfragespitze könnte von 77 GW auf 95 Gigawatt steigen“, sagt EWI-Experte Johannes Wagner. „Wir brauchen also nicht weniger, sondern mehr gesicherte Leistung als heute.“

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Doch mit dem Kohleausstieg und dem Atomausstieg wird gerade die gesicherte Leistung knapp. Gesicherte Leistung wird heute zum allergrößten Teil durch Kohlekraftwerke, Gaskraftwerke, Kernkraftwerke, Biogasanlagen und Wasserkraftwerke bereitgestellt. Sie können immer dann verlässlich eingesetzt werden, wenn der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint.

Mehr gesicherte Leistung erforderlich

Da die künftige Koalition anstrebt, früher aus der Kohleverstromung auszusteigen als bislang geplant, wächst der Druck, das Gesamtsystem stabil zu halten: „Bislang sind wir davon ausgegangen, dass 2030 noch Kohlekraftwerke mit insgesamt bis zu zwölf GW installierter Leistung am Netz sind. Wenn diese Kraftwerke 2030 bereits abgeschaltet werden sollen, erhöht das den Ersatzbedarf im Bereich der gesicherten Leistung“, sagt Gierkink.

Hier kommen vor allem zusätzliche Gaskraftwerke in Betracht. Als der Kohleausstieg noch nicht für 2030, sondern für 2038 angepeilt wurde, hatten die EWI-Experten einen Neubaubedarf bei Gaskraftwerken von 14 GW angenommen. Jetzt erhöht das EWI den Wert auf 23 GW.

Ein kleiner Teil der gesicherten Leistung wird laut EWI künftig auch durch Batteriespeicher abgedeckt. „Bislang sind wir in unseren Berechnungen von zwei GW Batteriespeicherkapazität ausgegangen, nun werden aber vier GW erforderlich sein. Das ist ein ambitionierter Wert. Der Aufbau dieser Kapazitäten ist keineswegs ein Selbstläufer“, sagt Johannes Wagner vom EWI. Batteriespeicher in der Gigawatt-Klasse sind bislang Zukunftsmusik. Sie dürften auch künftig lediglich dem Zweck dienen, kleinere Schwankungen auszugleichen.

Braunkohletagebau bei Grevenbroich © Imago/Westend61

Aus Sicht der Branche gilt es nun, zusätzliche Gaskraftwerke möglichst rasch in Betrieb zu nehmen, die dann zu einem späteren Zeitpunkt von Erdgas auf Wasserstoff umgestellt werden können. „Wer den Kohleausstieg will, darf sich nicht gegen neue, wasserstofffähige Gaskraftwerke stellen. Es muss sichergestellt sein, dass diese Kraftwerke auch tatsächlich gebaut werden“, sagt BDEW-Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andreae: „Viel Zeit ist nicht mehr.“

EWI-Experte Gierkink teilt die Auffassung, dass die Politik erst noch den Rahmen schaffen muss, damit neue Gaskraftwerke auch tatsächlich entstehen: „Die Marktbedingungen geben den Zubau von 23 Gigawatt derzeit nicht her. Es müsste staatliche Anreize geben.“
Solche Anreize stellt die Ampelkoalition durchaus in Aussicht. Im entsprechenden Passus des Koalitionsvertrags heißt es: Um den zügigen Zubau gesicherter Leistung zu fördern und den Atom- und Kohleausstieg abzusichern, „werden wir in diesem Rahmen bestehende Instrumente evaluieren sowie wettbewerbliche und technologieoffene Kapazitätsmechanismen und Flexibilitäten prüfen“. Was genau darunter zu verstehen ist, ist allerdings unklar.

Das Problem: Ehe entsprechende Regelungen unter Dach und Fach sind, dürften noch Monate vergehen. Investitionsentscheidungen für Gaskraftwerke liegen also noch in weiter Ferne.

„Selbst wenn es wirtschaftlich interessant wird, wasserstofffähige Gaskraftwerke zu bauen, ist die Umsetzung eine Herausforderung. Der Vorlauf für den Bau eines Kraftwerks ist erheblich, die Planungs- und Genehmigungsanforderungen sind hoch“, sagt Gierkink.
Auch Unternehmen aus der Branche weisen darauf hin, dass der gute Wille allein nicht ausreicht, um beim Bau von Gaskraftwerken oder auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien voranzukommen. „Welche Projekte umsetzbar sind, hängt unter anderem von den Rahmenbedingungen, dem Netzausbau und dem Tempo der Genehmigungsverfahren ab“, heißt es etwa beim Energiekonzern RWE.

Das Lausward-Gaskraftwerk in Düsseldorf © mauritius images

Hinzu kommt, dass Klimaschützer und auch Teile der Grünen neue Gaskraftwerke grundsätzlich ablehnen. Die Grüne Jugend etwa, Nachwuchsorganisation der Grünen, fordert einen Ausstieg aus der Nutzung von Erdgas spätestens 2035 und hält den Neubau von Gaskraftwerken grundsätzlich für gefährlich. Die Koalitionsvereinbarung trägt diesem Gedanken Rechnung, indem sie festgelegt: Neue Gaskraftwerke müssen so gebaut werden, dass sie auf den Betrieb mit klimaneutralem Gas – also etwa mit grünem Wasserstoff – umgestellt werden könnten.

Die Annahme, dass Deutschland künftig übers Jahr gesehen mehr Strom verbraucht als produziert und somit den Rest importieren muss, teilt die Energiebranche nicht. Mit dem Zubau neuer Gaskraftwerke und dem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien werde Deutschland langfristig „voraussichtlich wieder netto Strom exportieren“, sagt EnBW-Vorstand Georg Nikolaus Stamatelopoulos.

Mehr Strom wird ins Ausland verramscht

EWI-Berechnungen stützen diese Annahme. „Der wachsende Anteil der Stromproduktion aus volatilen Quellen führt dazu, dass es immer häufiger Phasen geben wird, in denen man den Strom im Inland nicht wird verbrauchen können. Ein Teil dieses Stroms wird dann ins Ausland exportiert werden“, sagt EWI-Experte Wagner. „Per Saldo bleibt Deutschland in diesem Szenario daher Stromexporteur. Das darf man allerdings nicht als Indiz dafür werten, dass die Versorgung sicherer wird“, ergänzt er.

„Der Strom wird voraussichtlich oft auch zu Niedrigpreisen exportiert werden“, sagt Wagner. Andere Brancheninsider drücken sich weniger diplomatisch aus: „Wir werden immer häufiger Strom ins Ausland verramschen müssen“, sagt ein Energiemanager. Gleichzeitig werde man händeringend gesicherte Kraftwerksleistung suchen.

Das bestätigt das EWI: Gesicherte Kraftwerksleistung werde europaweit ein knappes Gut, sagt EWI-Experte Wagner: „Bei unseren Berechnungen unterstellen wir, dass ein Teil der gesicherten Kraftwerksleistung aus dem Ausland kommt. Wir gehen dabei von einem Wert von zehn Gigawatt aus.“

Sollte es gelingen, die Ziele des Koalitionsvertrags in die Tat umzusetzen, würden damit nach Berechnungen des EWI die Klimaziele für den Energiesektor für 2030 „deutlich übererfüllt“ sein. „Das würde den Druck aus anderen Sektoren nehmen, etwa Verkehr und Gebäude, bei denen sich die CO2-Reduktion als schwieriger erweisen könnte“, sagt Gierkink.

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