Stechuhr-Urteil Bundesarbeitsgericht: Arbeitszeiterfassung ist in Deutschland Pflicht
Die Richter schaffen Fakten: Arbeitgeber müssen die Arbeitszeiten der Beschäftigten systematisch erfassen. Das dürfte sich auch auf die Vertrauensarbeitszeit und das Homeoffice auswirken.
15.09.2022 | von Heike Anger
Bundesarbeitsgericht in Erfurt © dpa
Berlin Das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt hat entschieden: In Deutschland besteht eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Die Präsidentin des höchsten deutschen Arbeitsgerichts, Inken Gallner, begründete die Pflicht von Arbeitgebern zur systematischen Erfassung der Arbeitszeiten am Dienstag mit dem sogenannten Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
Der EuGH hatte im Mai 2019 entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten, mit dem die täglich geleistete Arbeitszeit der Beschäftigten gemessen werden kann. Nur so könnten die Rechte aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie umgesetzt werden, also die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie die täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten.
Gallner verwies auf einen Passus im Arbeitsschutzgesetz, der Arbeitgeber verpflichte, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. „Wenn man das deutsche Arbeitsschutzgesetz mit der Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs auslegt, dann besteht bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung“, sagte sie in der Verhandlung.
Pflicht zur Arbeitszeiterfassung: Hubertus Heil prüft Änderung von Arbeitszeitgesetz
Der deutsche Gesetzgeber hatte bislang noch gar nicht auf das EuGH-Urteil reagiert. Derzeit prüft Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP heißt es: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“
Aus dem Bundesarbeitsministerium (BMAS ) hieß es auf Anfrage des Handelsblatts: „Das BMAS nimmt das Urteil zur Kenntnis, wartet nun auf Begründung und wird diese eingehend prüfen.“
Fachleute rechnen damit, dass das BAG-Grundsatzurteil (1ABR 22/21) weitreichende Auswirkungen auf die bisher in Wirtschaft und Verwaltung tausendfach praktizierten Vertrauensarbeitszeitmodelle bis hin zu mobiler Arbeit und Homeoffice haben kann, weil damit mehr Kontrolle nötig ist. Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz müssen bisher nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht die gesamte Arbeitszeit. Gerichtspräsidentin Gallner sagte dazu, nach dem EuGH-Urteil habe Deutschland Gestaltungsspielraum „über das Wie, nicht das Ob“ der Arbeitszeiterfassung. Diese sei auch „Schutz vor Fremdausbeutung und Selbstausbeutung“.
Mehr Kontrolle wegen Überstunden
Im konkreten Fall war es eigentlich um die Mitbestimmung gegangen: Eine Klinik im Raum Minden und der Betriebsrat hatten 2017 Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung geführt, konnten sich aber nicht einigen. 2018 entschloss sich die Klinik, auf eine elektronische Zeiterfassung zu verzichten.
Der Betriebsrat setzte daraufhin beim Arbeitsgericht Minden die Einsetzung einer Einigungsstelle durch. Doch die Arbeitgeber rügten die Zuständigkeit der Schlichtungsstelle: Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bestehe bei Einführung einer „technischen Einrichtung“ kein Initiativrecht des Betriebsrats.
1989 hatte das BAG die Auffassung vertreten, der Betriebsrat könne technische Kontrollen lediglich ablehnen. Der Betriebsrat in Minden pochte indes auf andere „schützenswerte“ Rechte.
Gerade wenn es um die genaue Erfassung von Arbeitszeit und Überstunden gehe, könne es auch aus Arbeitnehmersicht gut sein, „mehr Kontrolle“ zu verlangen, so die Argumentation.
Landgericht HAM gestand Betriebsrat ein Initiativrecht zu
Der Fall ging vor das Arbeitsgericht Minden und schließlich vor das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm. Die spektakuläre Entscheidung: Das Gericht gestand dem Betriebsrat ein Initiativrecht bei der Einrichtung technischer Einrichtungen zu (7 TaBV 79/20).
Nun scheiterte der Betriebsrat vor dem BAG aber mit seiner Forderung zur elektronischen Zeiterfassung. Eine betriebliche Mitbestimmung oder ein Initiativrecht sei ausgeschlossen, wenn es bereits eine gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung gibt, begründete das Bundesarbeitsgericht seine Entscheidung.
Damit ist es höchstrichterlich entschieden, dass deutsche Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sind.
Bundesarbeitsgericht: So bewerten Experten das Urteil zur Arbeitszeiterfassung
Der Bonner Arbeitsrechtsprofessor Gregor Thüsing nannte die Entscheidung der Bundesarbeitsrichter einen Paukenschlag. „Klar ist: Jeder Arbeitnehmer muss die Möglichkeit haben, seine Arbeitszeiten aufzuzeichnen – bereits jetzt, ohne neue Gesetze“, sagte Thüsing dem Handelsblatt. Ob und inwieweit es eine Pflicht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gebe, tatsächlich aufzuzeichnen, sei eine andere Frage. Das würden erst die Entscheidungsgründe des Gerichts aufzeigen.
Arbeitsrechtsexperte Philipp Byers von der Kanzlei Watson Farley & Williams erklärte, für Unternehmen, Betriebsräte und auch die Mitarbeiter entstehe nun „eine mehr als unbefriedigende Situation“. Durch die Untätigkeit des deutschen Gesetzgebers nach dem EuGH-Urteil gebe es keine klaren gesetzlichen Regelungen.
Keiner wisse, wie diese Zeiterfassungspflicht nun konkret umgesetzt werden solle. „Das Ende der Vertrauensarbeitszeit als Arbeitszeitmodell ist aber aus meiner Sicht nicht gekommen“, sagte Byers. Arbeitgeber würden wohl kaum einer minutiösen Kontrollpflicht unterliegen.
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Erstpublikation: 13.09.2022, 13:11 Uhr (zuletzt aktualisiert am 13:09.2022, 17:14 Uhr) .