Kommentar Bei Corona-Lockerungen muss gelten: Vorrang für die Schulen!
Vor dem Corona-Gipfel werben die Wirtschaftsverbände für eine schnelle Öffnung der Geschäfte. Doch Vorrang sollte der Präsenzunterricht haben – die langfristigen Schäden wären sonst immens.
09.02.2021 | von Christian Rickens
Apps für die mentale Gesundheit © obs
Liest man die Stellungnahmen der Wirtschaftsverbände vor dem Corona-Gipfel am morgigen Mittwoch, erscheint es rätselhaft, dass es überhaupt jemals zu einer zweiten Welle der Pandemie kommen konnte. Nahezu jede Branche rühmt sich ihrer lückenlosen Schutzkonzepte.
Nahezu jede Branche behauptet, auch vor dem Lockdown vom Herbst kaum zum Infektionsgeschehen beigetragen zu haben. Nahezu jede Branche verweist auf die gewaltigen wirtschaftlichen Folgeschäden, die bei einer weiteren Schließung unvermeidlich seien.
Keine dieser Behauptungen ist falsch. Was auch daran liegt, dass wir in Deutschland ein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie dramatisch wenig über die wahren Infektionstreiber wissen.
Klar, in Pflegeheimen und bei Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen verbreitet sich das Virus rapide. Aber darüber hinaus? Gibt es kaum mehr als Mutmaßungen.
Dass die Infektionszahlen trotz des seit Januar geltenden Lockdowns nur qualvoll langsam sinken, deutet darauf hin: Viele Verbreitungswege liegen und lagen außerhalb der nun geschlossenen Geschäfte, Restaurants, Schulen und Freizeiteinrichtungen.
Die Politik stellt das vor ein Dilemma. Die zweite Infektionswelle in Deutschland ist bei Weitem nicht überwunden. Die zunehmenden Virusmutationen machen die Pandemielage noch schwerer berechenbar. Und die Impfungen gehen viel zu langsam voran.
Zeit für ein mutiges Werturteil der Politiker
Gleichzeitig wächst der Druck aus der Wirtschaft, den Lockdown endlich zu lockern. Nach welchen Kriterien sollten die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten am Mittwoch über Öffnungen entscheiden?
Karikatur © Kostas Koufogiorgos für Handelsblatt
Die Naturwissenschaft kann hier wenig helfen, denn auch die Virologen wissen nicht, ob es nun eher die Buchhandlungen oder die Autohäuser waren, die bis zu ihrer Schließung zur Corona-Verbreitung beigetragen haben. Wir müssen daher bis auf Weiteres davon ausgehen: Jede Lockerung des Lockdowns wird tendenziell zu mehr Infektionen führen.
Die Politiker müssen sich in dieser Lage vom Primat der Virologie ebenso frei machen wie von den lautstarken Lobbyistenstimmen – und ein mutiges Werturteil fällen: Welche der derzeit geschlossenen Bereiche sind gesellschaftlich so wichtig, dass sie trotz eines nicht gänzlich auszuschließenden Infektionsrisikos vorrangig geöffnet werden müssen? Das sind ganz sicher nicht die Autohändler und Textildiscounter – sondern die Schulen.
Milliardenschwere Schäden ohne Präsenzunterricht
Jede Woche ohne Präsenzunterricht richtet milliardenschwere Folgeschäden an, gegenüber denen alle anderen ökonomischen Auswirkungen der Coronakrise verblassen. Studien auf Basis der Kurzschuljahre der Sechzigerjahre zeigen: Bereits wenige Monate Schulausfall reichen, um das Lebenseinkommen der betroffenen Kinder um rund fünf Prozent sinken zu lassen. Eine Einbuße, die keineswegs gleichmäßig verteilt sein wird.
Besonders betroffen sind die Schüler aus den sogenannten bildungsfernen Schichten – all jene, die keine Akademikereltern zu Hause haben, die mit ihnen den versäumten Stoff nachholen. Der sogenannte Digitalunterricht ist leider kein Ersatz. Auch deshalb, weil es die Kultusbehörden versäumt haben, für tatsächlich funktionierende Angebote zu sorgen.
Deshalb sollte beim Corona-Gipfel am Mittwoch nur eine Lockdown-Lockerung vorrangig beraten werden: eine unverzügliche Rückkehr zum Präsenzunterricht mit allen menschenmöglichen Schutzmaßnahmen.
Die Ideen dazu liegen seit Monaten auf dem Tisch, gescheitert sind auch sie bislang am Attentismus der Kultusbürokratie: Anmietung größerer Klassenräume, Unterricht im Schichtsystem, mobile Luftfilter in den Schulgebäuden, regelmäßige Corona-Schnelltests für Schüler und Lehrer. Je nach Verfügbarkeit des Serums auch ein Vorrang für Lehrer bei Corona-Impfungen.
Öffnungsperspektiven für Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleister müssen her
Doch auch Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleister sollten beim Gipfel am Mittwoch nicht nur vertröstet werden. Ihnen kann die Politik zumindest Öffnungsperspektiven aufzeigen. Vor allem die wachsende Verfügbarkeit von Corona-Schnelltests macht hier vieles möglich: Warum nicht den Besuch von Friseur, Restaurant oder Fitnessstudio an einen negativen Test oder einen Impfnachweis koppeln? Der Schnelltest könnte dann gleich am Empfangstresen angeboten werden.
Auch die Liste der systemrelevanten Einzelhändler sollte sich die Politik noch einmal anschauen. Dass zum Beispiel öffentliche Leihbüchereien vielerorts geöffnet haben, private Buchhandlungen aber nicht, lässt sich unter dem Gesichtspunkt des Infektionsschutzes schwerlich rechtfertigen.
Ein Stufensystem, wie es zum Beispiel die Ministerpräsidenten von Thüringen oder Schleswig-Holstein ins Gespräch gebracht haben, könnte ebenfalls helfen, den Unternehmen Planungssicherheit zu geben.
Solch klare Grenzen, ab welchem Infektionsgeschehen welche Betriebe mit welchen Auflagen öffnen dürfen, würden zudem einen verbreiteten Vorwurf an die Politik ausräumen: dass die Regierungen nach politischen Opportunitäten mehr oder weniger willkürlich über das Schicksal ganzer Branchen entscheiden – mitsamt den Tausenden Existenzen, die von ihnen abhängen.