Rezension Bob Dylan mit einem musikalischen Panorama der amerikanischen Geschichte
Das neue Buch von Bob Dylan „Die Philosophie des modernen Songs“ ist grell, widersprüchlich und laut. Es spiegelt eine Gesellschaft, die so zerrissen wie unübersichtlich ist.
17.12.2022 | von Ulrich Selich
Bob Dylan © AP
Düsseldorf Seit seinem Literaturnobelpreis 2016 hatte die Welt warten müssen auf ein neues Buch von Bob Dylan. Nun ist das da.
„Die Philosophie des modernen Songs“ kommt akademisch daher, klingt nach systematischer Abhandlung und trockener Theorie, doch von Systematik kann hier keine Rede sein. Stattdessen öffnet sich eine Bühne mit ständig wechselnden Kulissen und einem unüberschaubaren Personal.
Dylan tritt selbst auf, adressiert immer wieder ein Du und präsentiert seine Auswahl von 66 Liedern und mit passendem Bildmaterial wie ein Moderator, ein Prediger der Apokalypse oder Museumsführer.
Etwa „El Paso“ von Marty Robbins, dessen Großvater ein gefeierter Wildwestdichter gewesen sei, und Dylan zitiert den Enkel: „Mein Großvater hat Geschichten geschrieben, aber er konnte keine Melodien schreiben, deshalb schrieb ich irgendwann Melodien zu den Geschichten, die er mir erzählte.“
Schwer auszuhalten, was wir über John Trudell erfahren, dessen Familie mutmaßlich vom FBI ermordet wurde, worüber er den Song schrieb „Doesn’t Hurt Any More“, beängstigend der Blick auf den „Midnight Rider“ (Allman Brothers), einen Wiedergänger der amerikanischen Frontier.
Da entsteht ein großes Panorama amerikanischer Geschichte, grell, widersprüchlich, laut und unnötigerweise überwiegend männlich: Nicht mal eine Handvoll Frauen findet Beachtung.
Doch zuallererst ist das Buch eine Würdigung musikalischer Traditionen, und das mit Blick auf „den Schweiß und die Mühe, die Wut und das Blut“, die den Songs eingeschrieben sind. Wie zum Beispiel „Nelly Was a Lady“ aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, 2004 interpretiert von Alvin Youngblood Hart: „Eine bessere Version … wird man nicht hören.“
Dylans „Philosophie“ spiegelt eine Gesellschaft, die so zerrissen wie unübersichtlich ist. Und genau da wird der hohe Anspruch noch am ehesten greifbar: Lies genau, lieber Leser, ich helfe dir mit den Songs zu verstehen. Und dann hör sie dir an!