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Ausstellung in Berlin
Berlin Art Week: Der altvertraute Overkill

In der Hauptstadt trotzt die Kunst den Krisen und lockt mit enormer Vielfalt. Der Berliner Kunstherbst fokussiert besonders die Werke weiblicher Künstler.

15.09.2022 | von Christian Herchenröder

Tue Greenfort © Roman Maerz

Berlin Es ist wieder mal der altvertraute Overkill. Die Berlin Art Week wartet mit über 50 Ausstellungs-Eröffnungen und Veranstaltungen auf und parallel dazu gibt es fast noch einmal so viel Galerie-Vernissagen. Stark im Blickpunkt stehen in diesem Herbst weibliche Künstler.

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Eine für den Kunststandort Berlin wichtige Ausstellung findet in den Uferhallen in Wedding statt, ein Areal, in dem viele der 80 Ateliers von 150 Künstlern bedroht sind, weil hier ab 2023 teure Wohnungen und Büroflächen entstehen sollen: eingebaut, überbaut und gekrönt von einem Hochhaus. Das Ganze sieht nach schleichender Verdrängung aus.

Mit der Ausstellung „On Equal Terms“ in der zentralen Halle thematisieren Künstler und Künstlerinnen ihre prekäre Lage. Eines der Hauptobjekte dieser Schau ist eine Geldmaschine von Stefan Alber, in der auf Förderbändern Münzen als Symbol für konstante Geldgier transportiert werden.

Themen des Artikels

Einen starken Auftritt haben 18 Galerien in den Wilhelm Hallen in Reinickendorf. Im Ausstellungsareal figurieren die meist großformatigen Werke in einer luftig arrangierten Gruppenschau. Ein monumentaler Augenfänger ist die Installation „false ruin and lost innocence“ von Isa Melsheimer, die seit 2012 zum Künstlerstamm von Esther Schipper gehört. Der Fantasie entsprungene Architekturmodelle stehen vor einem mythischen Riesenvorhang mit einem Farbbild von Menschenbeinen, aus denen Wurzeln wachsen.

Überzeugende Kraft hat eine Installation von 61 Fotografien der Amerikanerin Aura Rosenberg, die Männerporträts in einem breiten Panorama emotionaler Gefühle zeigen. Im hinteren Teil der großen Zentralhalle haben die Galerien eine Enfilade weniger raumgreifender Werke arrangiert.

Tue Greenfort © Roman Maerz

Die Beteiligung an dieser Gesamtschau ist mit 3000 Euro wohlfeiler als bei einer Messe. Die ist mit der neunten Ausgabe der „Positions“ in Tempelhof mit 88 Ausstellern und junger aufstrebender Kunst gut bestückt.

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Mehdi Chouakri, der seit einem Jahr in den Wilhelm Hallen mit Galerieräumen und Lager residiert, zeigt bis zum 17. Dezember Hans-Peter Feldmann, der hier unter anderem mit Assemblagen gesammelter Seestücke und gestapelter Bilderrücken (330.000 bzw. 500.000 Euro) seinen subversiven Gusto für das Vorfabrizierte dokumentiert. Feldmanns obligate Clownsnase ist einem Gerippe aufgesetzt, das auf einem anonymen weißgrundigen Gemälde antichambriert (65.000 Euro).

Ein Coup im Kirchenschiff von St. Agnes

Der Berliner Galerieherbst hat ein starkes Programm. Johann König ist ein Coup gelungen. Im Kirchenschiff seiner Galerie St. Agnes ließ er den dänischen Künstler Tue Greenfort eine Gruppe raumgreifender Werke arrangieren, die, mit ökologischem Impuls aufgeladen, die Frage nach der Rolle der Natur in einer unausgeglichenen Welt stellt.

Die Exponate reichen von einem kontinuierlich wachsenden Bio-Weizenfeld über Bronzegüsse alter Ährensorten, den Baumstamm, der mit gestickten Parolen der Umweltbewegung bespannt ist, bis zu einer riesigen transparenten Rippenqualle, die eines der ältesten Lebewesen der Welt ist. Raketenhaft wirkende Pilzskulpturen, Blütenabdrucke und Ährenbilder in einem alten fotografischen Druckverfahren ergänzen die Schau, die hohe Standards einer ökologischen Ästhetik setzt. Die Preise liegen zwischen 2500 und 70.000 Euro.(Bis 2.10.)

Ein Schwergewicht der britischen Plastik ist seit sechzig Jahren der Bildhauer Anthony Caro, von dem die Galerie Max Hetzler in ihren Räumen an der Potsdamer Straße eine veritable Retrospektive zeigt. Im Hauptsaal stehen die monumentalen Eisen- und Stahlskulpturen, die mit ihren verschränkten additiven Elementen eine technoide, Raum gliedernde Wirkung haben. Das sind klassische auftrumpfende Manifestationen der abstrakten Plastik.

In den oberen Räumen begegnet uns der delikate Bildhauer, der mit feingliedrigen „Table Pieces“ und markanten Papierarbeiten die andere Seite seines Schaffens zeigt. Die Preise liegen zwischen 60.000 und 1,2 Millionen Pfund Sterling. (Bis 29.10.)

Nebenan bricht Juerg Judin eine Lanze für das Frühwerk von Michael Buthe, der in den späten sechziger Jahren mit Bildern in Erscheinung trat, die mit einer konzeptuellen Zerstörung und Zerfetzung der Bildfläche eine dekonstruktivistische Erneuerung der Kunst anstrebten.

Michael Buthe bei Harald Szeemann

Diese Periode war fast vergessen, als die Londoner Tate Modern das Großformat „Torn Canvas“ erwarb, das 1969 in Harald Szeemanns berühmter Ausstellung „When Attitudes Become Form“ hing. Das große Schwesterbild mit zerfetztem Stoff auf Keilrahmen konnte Judin gerade an ein deutsches Museum verkaufen. In der Ausstellung hängen Werke, in denen die Holzrahmen mit besprühter und bemalter Leinwand ummantelt sind — Zeugnisse einer Konzeption, die Form durch Formzerstörung schafft. Preise 10.000 bis 68.000 Euro. (Bis 5.11.)

Eine andere, eher ätherische Methode pflegt die Berliner Künstlerin Anna Virnich in ihren großformatigen textilen Tableaus, die in der Charlottenburger Galerie Grunenberg ausgestellt sind. Die Stoffe sind so aufgespannt und miteinander verschmolzen, dass sich im Fernblick malerische Wirkungen ergeben, die auch Raum für Transparenz schaffen. Die ursprünglich abstrakte Komposition wird durch Übermalungen und fragmentierte Blumenmuster ins Gegenständliche transponiert. Die Preise reichen von 16.000 bis 20.000 Euro.

Das Spektrum der Berliner Galerie-Ausstellungen reicht von Meeresaquarellen Noldes bei Bastian über Abstraktion der fünfziger und sechziger Jahre bei Wolfgang Werner bis zu Werken der multimedialen Inderin Shilpa Gupta. Sie debütiert bei Neugerriemschneider in Berlin.

Eine starke Marktpräsenz hat die britische Malerin Cecily Brown, die zu den Stammkünstlern der Galerie Contemporary Fine Arts zählt. In ihrer jetzigen Ausstellung liegt der Akzent auf Aktbildern, die das erotische Motiv emotional aufladen. Aber es gibt auch Stillleben und Gemälde, die Motive von Bosch und Brueghel paraphrasieren, und eine Gruppe von Bildern zum Thema „Leda und der Schwan“, Arbeiten, in denen der expressive Duktus abstrakte und figurative Elemente verbindet. Die Preise liegen zwischen 185.000 und 1,2 Millionen Dollar (bis 29.10.).

Ihre erste Ausstellung in der Galerie Thomas Schulte hat die amerikanische Bildhauerin Kiki Smith, die hier mit Arbeiten der letzten zwanzig Jahre vertreten ist: einem auf Stabkonstruktion balancierenden Akt, schwebende Himmelskörper, einer bronzenen Vogelschar, Kupferdrucken und Zeichnungen. Ein überwältigendes Paradestück ist die sechs Meter breite collagierte Farbzeichnung einer Wasserschlange, auf deren Rücken Eule und Katze sitzen. Die Preise liegen bei 2500 bis 350.000 US-Dollar (bis 22.10.).

Fotografie trumpft bei bei Barbara Thumm auf. Mit empathischen Aufnahmen taucht die amerikanische Ikone Carrie Mae Weems in die kubanische Szene ein. In einem tektonischen Triptychon wächst das Holocaust-Denkmal in schattige Tiefe. Von bezwingender Aura sind die blautonigen Großporträts starker, regennass posierender Frauen. Die Preise liegen bei 30.000 bis 125.000 Dollar (Bis 30.10.).

Mehr: Doppelter Galerienauftakt München: Drei Tage für den Kunstflaneur

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